Mit einem Glas Bordeaux habe ich es mir vor meinem Fernseher gemütlich gemacht. Wie jeden Tag zeigt France2 die Tour ausführlich und live. Draußen regnet es. Auf der Strecke ist das nicht anders. Christophe Mengin begeistert die Massen mit einer couragierten Fahrt. Er will dort, wo er zuhause ist, unbedingt gewinnen. Es sind nur nur fünf Kilometer, aber der Abstand wird nicht geringer. Sollten die Sprinter diesmal leer ausgehen? Ich genehmige mir noch einen Schluck.
Die ersten fünf Etappen der Tour sind Geschichte. Eine knappe Woche, in der viel passiert ist. Schon im ersten Zeitfahren hat Armstrong den dicken Jan in Grund und Boden gefahren. Für viele ist die Tour zu Ende, das Ergebnis klar. Für mich hat sie gerade erst angefangen. Lance ist stark und von Ullrich auch dieses Jahr nicht zu besiegen. Das heißt aber nicht automatisch, daß es wieder den gleichen Toursieger wie in den letzten sechs Jahren geben wird.
Vor zwei Wochen gab es ein großes Theater, weil Team Telekom den verdienten Frontkämpfer und Frankreichveteranen Erik Zabel zuhause gelassen hat, um das Team ganz auf Ulle auszurichten. Nach dem Einzelzeitfahren schien sich meine ursprünliche Meinung, daß Zabel der Mannschaft zehnmal dienlicher wäre als Andreas Klöden in seiner gegenwärtigen indiskutablen Form, auf breiter Front durchzusetzen. Da hatte ich aber schon längst erkannt, daß Ulle und Klödi fein aufeinander abgestimmt sind. Die können sich gegenseitig im Grupetto die Berge hochschieben. Nein, Ullrich gewinnt auch diese Tour nicht.
Er ist zwar der selbsternannte stärkste Rivale Armstrongs, aber objektiv gesehen nicht einmal die Nummer eins im eigenen Team. Der zweite Pfeil im Köcher und Cokapitän der Mannschaft heißt Alexander Winokurow. Er hat mit seinem Sieg bei Lüttich-Bastogne-Lüttich und mit starker Fahrweise bei der Dauphiné Libéré gezeigt, daß 2003 kein Zufall war. Damals hatte er an einem dramatischen Dreikampf mit Armstrong und Ullrich mitgewirkt und für die spannendste Tour seit langer Zeit gesorgt. Nun sagt er seit Monaten mit leiser und doch bestimmter Stimme, daß der stärkste Fahrer im Team alleiniger Kapitän sein wird und die Tour gewinnen kann. Er hat keinen Zweifel, daß er das sein wird, und sieht Ullrich inzwischen sicher als seinen Helfer. In der Mannschaft scheint das allerdings noch keiner verstanden zu haben, am allerwenigsten Ullrich selbst.
Inzwischen sind die Fahrer auf dem letzten Kilometer dieser sechsten Etappe angekommen. Es regnet immer noch in Strömen. Mengin führt immer noch. Jetzt die letzte Kurve, für die das Tempo mit Bedacht gewählt sein will. Mengin überreißt, will unbedingt gewinnen und verliert letztlich alles. Er schliddert über den nassen Asphalt in die Absperrung. Das Peloton folgt wenige Sekunden später, mehrheitlich auf demselben schmerzvollen Weg. Im allgemeinen Chaos, keiner weiß genau wie, sind zwei Rennfahrer losgestiefelt, haben den Sturz vermieden und machen jetzt den Sieg unter sich aus. Ein unwichtiger Italiener gewinnt, Alexander Winokurow wird zweiter.
Mit meinem zweiten Glas feiere ich Winos zweiten Platz. Jetzt ist alles klar. Es gibt im Feld nur einen einzigen Fahrer, der sich nicht mit Armstrongs Allmacht zumindest unterwußt abgefunden hat. Nach den Zeitfahren hat Lance einen beträchtlichen Vorsprung, doch Winokurow weiß, wie er zu besiegen ist. Er muß ihm Zeit abnehmen, bis der Vorsprung dahin ist. Der erste Schritt ist getan, 19 Sekunden sind verschwunden. Und die Bergen kommen erst noch. Der Weg nach Paris ist lang. Prosit.
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